Nichtstaatliches Familienrecht in Syrien

Als Ergebnis des fortwährenden Bürgerkrieges schwindet die politische und militärische Einflussnahme des Assad-Regimes in Teilen Syriens seit Jahren, wenngleich auch in wechselhaftem Maße. Ganze Regionen des Landes sind oder waren zeitweilig nicht mehr unter staatlicher Kontrolle. Stattdessen haben unterschiedliche lokale (vorrangig arabische) Oppositionsgruppen, die von diversen Rebellengruppen militärisch unterstützt werden, sowie mehrheitlich kurdische Bündnisse und der sogenannte „Islamisches Staat“ zentrale Gebiete eingenommen und dort eigenständige politische und Verwaltungssysteme etabliert. Die genauen Grenzverläufe verschieben sich unter den anhaltenden militärischen Auseinandersetzungen ständig, nichtsdestotrotz lassen sich bestimmte Hochburgen der einzelnen Akteure ausmachen.1 Der militärische und politische Zerfall Syriens hat dabei auch Auswirkungen auf das Familienrecht des Landes, so dass mittlerweile mindestens drei alternative nichtstaatliche Familienrechtssysteme vorzufinden sind. Aussagen über den Inhalt und die praktische Anwendung dieser nichtstaatlichen Rechtssysteme sind schwer, und daher mit Vorsicht, zu treffen. Ihre Erforschung und Aufarbeitung ist weiterhin nur unter sehr schwierigen Voraussetzungen möglich und basiert in weiten Teilen auf Berichten aus regionalen und überregionalen arabischen Medien sowie einigen wenigen Publikationen der einzelnen oppositionellen Akteure selbst.

Syrische Oppositionsgruppen

Dem staatlichen Personalstatut am nächsten kommt das in den von der syrischen Opposition kontrollierten Landesteilen (hierzu gehört unter anderem die Region um die Stadt Idlib sowie bis zum vergangenen Jahr Teile Aleppos) angewandte Familienrecht. Dieses ist ebenfalls interreligiös gespalten. Eine außergerichtlich erfolgte muslimische Eheschließung ist wirksam, sofern ihre religiös-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Registrierung hat dementsprechend auch hier vornehmlich deklaratorischen Charakter und kann weiterhin nachträglich erfolgen. Gleichzeitig haben Teile der Opposition unter dem Namen „Syrische Übergangsregierung“ (al-ḥukūma as-sūrīya al-muʾaqqata) zeitweilig ein umfangreiches paralleles Regierungssystem etabliert. In diesem besetzte sie nicht nur Behörden personell neu, sondern errichtete auch eigene Ministerien. Das „Justizministerium“ der syrischen Übergangsregierung beispielsweise hat Eheschließungsurkunden erstellt, die in ihrem Aufbau und Inhalt den offiziellen staatlichen Dokumenten zwar durchaus ähneln, aber eben das Siegel dieser syrischen Oppositionsgruppierung tragen.2

„Islamischer Staat“ (IS)

Aktuell schwindet der Einfluss der Terrormiliz mit dem selbstgewählten Namen „Islamischer Staat“ (IS) nicht nur im Irak, wo die seit drei Jahren besetzte Stadt Mossul im Sommer 2017 von der irakischen Armee weitestgehend zurückerobert wurde, sondern auch in Syrien. Gleichwohl hält der IS weiterhin die nordsyrische Stadt Raqqa sowie weitere Teile des Landes unter seiner Kontrolle. Über das in den vom IS kontrollierten Gebieten geltende materielle Eherecht ist wenig bekannt. Schriftlich dokumentierte Eheschließungen, die auch vom IS beglaubigt wurden, existieren.3 Inwieweit die Gerichte in den vom IS kontrollierten Gebieten ein Eheregister führen, ist unklar.4 Das Ehemündigkeitsalter für Frauen und Männer wird allgemein niedriger angesetzt, als es mehrheitlich im gegenwärtig geltenden Recht islamisch geprägter Rechtsordnungen der Fall ist.5

Kurdische Provinzen

Die vermutlich weitreichendsten Veränderungen hat das Eherecht in den de facto autonomen kurdischen Provinzen im Norden des Landes (auch als „Demokratische Föderation Nordsyrien“ bezeichnet) erfahren. Im Zuge des geographischen und politischen Auseinanderfallens Syriens hat die zivile Verwaltung der Kurdenregionen signifikante Reformen umgesetzt und unter anderem erstmalig die Zivilehe eingeführt. Die erste Zivilehe wurde bereits 2013 in Qamischli, einer mehrheitlich kurdischen Stadt im Nordosten Syriens, geschlossen.6 Mittlerweise hat sich die Zivilehe, im Rahmen derer die Parteien ihre Religionszugehörigkeit nicht mehr offenlegen müssen, in allen kurdisch verwalteten Provinzen etabliert und erhöhte mediale Aufmerksamkeit erlangt.7

Bewertung

Aus Sicht des staatlichen syrischen Familienrechts entfaltet eine zwischen Muslimen wirksam zustande gekommene Ehe auch dann Wirkung, wenn die Eheschließung von einer dem Assad-Regime feindlich gegenüberstehenden Gruppierung schriftlich dokumentiert oder bestätigt wurde. Dies folgt aus der Dualität von religiöser Eheschließung auf der einen und der Registrierung dieser Eheschließung auf der anderen Seite im syrischen Familienrecht. Ist die islamrechtliche Wirksamkeit gegeben, erkennt auch das staatliche Recht die Ehe grundsätzlich an. Gleichwohl muss angenommen werden, dass staatliche syrische Behörden einer unter Mitwirken von Oppositionsgruppen geschlossenen Ehe dennoch aus politischen Gründen ihre Wirksamkeit versagen würden. Noch schwieriger gestaltet sich die Beurteilung der Wirksamkeit einer im kurdischen Norden Syriens geschlossenen Zivilehe. Das staatliche syrische Familienrecht erkennt diese insbesondere dann nicht an, wenn sie einen Verstoß gegen das Ehehindernis aufgrund von Religionsverschiedenheit darstellt. Demnach ist muslimischen Frauen die Ehe mit Nichtmuslimen untersagt und muslimischen Männern lediglich die Eheschließung mit Angehörigen einer Buchreligion gestattet.8 Inwieweit letztere Kategorie auch Frauen jesidischen Glaubens umfasst, ist unklar.

Kollisionsrechtlich stellt sich überdies die grundsätzliche Frage, inwieweit das staatliche syrische Recht überhaupt noch als Bewertungsmaßstab dienen kann, wenn in Deutschland die Wirksamkeit einer unter nichtstaatlichem Familienrecht geschlossenen Ehe auf dem Prüfstand steht.


Fußnoten

1 Eine aktuelle Karte über die ungefähren Grenzverläufe staatlich kontrollierter und oppositioneller Gebiete in Syrien (Stand: März 2017) bieten Kahl/Goldenberg/Heras, Can Trump End the War in Syria?, Foreign Policy Online vom 29.3.2017, http://foreignpolicy.com/2017/03/29/can-trump-end-the-war-in-syria/, letzter Zugriff: 18.7.2017.
2 Die Informationen über das Eherecht in den von der Opposition kontrollierten Gebieten Syriens stammen vorrangig aus Berichten geflüchteter Syrer in Deutschland. Diese stellten der Forschungsgruppe auch Eheschließungsurkunden der sogenannten „Syrischen Übergangsregierung“ zur Verfügung.
3 Siehe beispielsweise die Kopie einer vom IS beglaubigten Heiratsurkunde aus Syrien auf der Webseite Al-ᶜĀğil vom 13.5.2014, www.ajel.sa/local/1272661, letzter Zugriff: 25.7.2017.
4 Auszüge aus einem eigenen Eheregister des IS in Libyen sind durch den IS bekämpfende Gruppierungen online bereits veröffentlicht worden, siehe Akher Khabar Online vom 7.10.2016, www.akherkhabaronline.com/ar/, letzter Zugriff: 25.7.2017.
5 Siehe hierzu beispielsweise Winter (Übers.), Women of the Islamic State: A manifesto on women by the Al-Khanssaa Brigade (London 2015), 7, 24.
6 Pizzi, Syrian Kurds celebrate war-torn country's first civil marriage, Al Jazeera America vom 3.12.2013, http://america.aljazeera.com/articles/2013/12/3/syrian-kurds-celebratewartorncountrysfirstcivilmarriage.html, letzter Zugriff: 25.7.2017.
7 ARA News vom 20.2.2016, Syria Kurds challenging traditions, promote civil marriage, http://aranews.net/2016/02/syria-kurds-challenging-traditions-promote-civil-marriage/, letzter Zugriff: 25.7.2017. 8 Art. 48 (2) syr. PSG bestimmt, dass die Eheschließung einer Muslimin mit einem Nichtmuslim nichtig (bāṭil) ist. Das Eheverbot zwischen muslimischen Männern und Angehörigen keiner monotheistischen bzw. Buchreligion ist aus dem klassischen islamischen Recht hanafitischer Prägung abzuleiten, das über die Regelungen zur Lückenfüllung gemäß Art. 305 syr. PSG herangezogen werden muss, da das Gesetz selbst den Sachverhalt nicht abschließend regelt.

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