Kommentar zum Eherecht schiitischer Afghanen
Das Familienrecht in Afghanistan ist im Gegensatz zur Mehrheit der islamischen Länder nicht interreligiös gespalten. Alle sunnitischen Afghanen und Afghanen anderer Religionszugehörigkeiten unterliegen den Regelungen des afghanischen Zivilgesetzbuches von 1977. Nur in Bezug auf schiitische Afghanen gibt es Sonderregelungen durch das Gesetz über das Personalstatut schiitischer Afghanen [qânûn-e ahvâl-e shakhsiye-ye ahl-e tashayyo´], Gesetzblatt Nr. 988 v. 27.7.2009 (im Folgenden: afgh.-schiit. PSG).
Es regelt die materiellen Eheschließungsvoraussetzungen in den Art. 74-103 afgh.-schiit. PSG. Formelle Voraussetzungen der Ehe sind im afgh.-schiit. PSG nicht geregelt. Es ist davon auszugehen, dass die Form den Bestimmungen des ZGB unterliegt.
Eheschließung
Vertragscharakter
Die Ehe ist ein Konsensualvertrag, der durch Angebot und Annahme der Nupturient*innen zustande kommt (Art. 98 afgh.-schiit. PSG). Sie setzt die Eheabsicht und den Konsens der Nupturient*innen voraus. Art. 99 afgh.-schiit. PSG regelt im Einzelnen, wie das Angebot und die Annahme zu formulieren sind, beinhaltet aber weitgehend Empfehlungen, wie etwa die, die Bräuche und Sitten einzuhalten und, wo möglich, die arabischen Begriffe zu verwenden. Wichtig ist, dass ein Ehekonsens vorliegt. Liegt ein solcher nicht vor, können die Eheschließenden diesen Mangel durch eine nachträgliche Zustimmung heilen. Die Ehegatten müssen bestimmt sein (Art. 102 afgh.-schiit. PSG). Zudem ist die Ehe bedingungsfeindlich.
Vertretung bei der Eheschließung
Ganz grundsätzlich sieht das afgh.-schiit. PSG die Möglichkeit der Stellvertretung bei der Eheschließung vor (Art. 100 afgh.-schiit. PSG). Diese erfordert eine rechtmäßige Vertretungsmacht durch Erteilung einer rechtsgeschäftlichen Vollmacht. Liegt eine solche nicht vor, werden die Handlungen des vermeintlichen Vertreters dem vermeintlich Vertretenen nicht zugerechnet. Eine ohne Vertretungsmacht durch den Falsus für einen anderen geschlossene Ehe ist unwirksam. Die Partei, die unberechtigterweise verheiratet worden ist, hat die Möglichkeit, die Ehe nachträglich zu bestätigen.
Polygynie
Das afgh.-schiit. PSG regelt die Polygynie in Art. 86 afgh.-schiit. PSG, in dem es die Voraussetzungen nennt, unter denen polygyne Ehen nicht eingegangen werden können. Daraus folgt zunächst die Zulässigkeit der Polygynie unter Schiiten in Afghanistan und im Umkehrschluss die Voraussetzungen für die Eingehung polygyner Eheschließungen.
Demnach kann ein verheirateter Mann mit weiteren Frauen die Ehe eingehen, wenn er (1) das Gleichbehandlungsgebot zwischen allen Frauen beachtet und (2) finanziell in der Lage ist, alle Ehefrauen zu unterhalten. Ein am 3. Dezember 2021 von der Taliban-Regierung erlassenes Dekret mit dem Titel „Besonderer Erlass vom Oberhaupt der Gläubigen [amîr al-mo`menîn] bezüglich Frauenrechten“, ruft zudem jene Männer, die mehrere Frauen haben, dazu auf, diese gerecht zu behandeln. Des Weiteren bestimmt Art. 86 Abs. 1 Nr. 3 afgh.-schiit. PSG, dass eine polygyne Ehe nur dann zulässig ist, wenn diese durch die erste Ehefrau ehevertraglich nicht verboten wurde. Wörtlich heißt es im Gesetz: „Ein Mann darf [...] nicht mit mehr als einer Frau eine Dauerehe schließen: […] 3. wenn die erste Frau im Zuge ihrer Eheschließung [mit dem Mann] vereinbart, dass der Ehemann keine andere Frau heiratet.“ Allerdings ist damit nicht gesagt, dass die erste Frau durch eine vertragliche Abrede wirklich erwirken kann, dass der Ehemann monogam lebt. Hat er entgegen der Vereinbarung eine polygyne Ehe geschlossen, dann ist diese (zweite/dritte/vierte) Ehe wirksam, da ehevertraglich kein Eheverbot errichtet werden kann. Der Vertragsbruch begründet indes eine Scheidungsgrundlage für die Ehefrau, mit der das Verbot vereinbart war.
Vereinbarungen im Ehevertrag und standardisierte Eheverträge
Den Ehegatten steht es frei, ihre ehelichen Rechte und Pflichten bei der Eheschließung vertraglich zu konkretisieren. Für die Wirksamkeit dieser Klauseln kann ganz grundsätzlich auf die schuldrechtlichen Bestimmungen des afgh. ZGB verwiesen werden. Art. 124 afgh.-schiit. PSG regelt zudem, wie mit Klauseln umzugehen ist, die unmöglich oder nutzlos sind oder gegen das islamische Recht und das Gesetz verstoßen. Ganz generell sind solche Bedingungen nichtig, während die Eheschließung wirksam bleibt. Ebenso sind vertragliche Bedingungen, die dem Wesen der Ehe widersprechen, nichtig. Diese führen indes auch zur Nichtigkeit der Ehe. Eine Bedingung gilt dann als dem Wesen der Ehe widersprechend, so Art. 124 afgh.-schiit. PSG weiter, wenn sie dem Inhalt oder den Folgen der Ehe zuwiderläuft, so etwa die Bedingung, niemals sexuell miteinander zu verkehren. Das Gesetz präzisiert zudem, dass die Ehefrau sich vertraglich ausbedingen kann, dass es dem Mann nicht erlaubt sein soll, eine polygyne Ehe zu schließen. Die Ehefrau kann sich zudem vertraglich folgende Rechte übertragen lassen: die Wahl der Wohnstätte; eine Vollmacht zur Scheidung, die uneingeschränkt oder an Bedingungen geknüpft sein kann, wie die Vereinbarung, dass ihr ein Scheidungsrecht zusteht, wenn der Ehemann keinen ehelichen Unterhalt leistet, zu einer langen Haftstrafe verurteilt wird, an einer schwer zu behandelnden Krankheit erkrankt oder für eine bestimmte Zeit abwesend ist. Interessant ist die Bestimmung, dass die Frau das Recht hat, sich bei der Eheschließung auszubedingen, dass sie, sofern sie kein Verlangen nach Geschlechtsverkehr hat, diesen verweigern darf, selbst wenn der Ehemann danach Verlangen hat. Bedingungen indes, die zur Annullierung der Ehe führen, sind unzulässig.