Abstammungs- und Sorgerecht schiitischer Afghanen

Die folgenden Bestimmungen finden auf alle schiitisch-muslimischen Afghanen Anwendung, Angehörige aller anderen Religionsgemeinschaften unterliegen grundsätzlich dem Zivilgesetzbuch v. 1977.



Schiitisches Personalstatutsgesetz v. 2009 (afgh.-schiit. PSG)1

Abschnitt 2: Die Familie
Kapitel 8: Die Kinder (Art. 173-180)


Abstammung

Art. 173
(1) Das in der Ehe geborene Kind gilt als von den Ehegatten abstammend, vorausgesetzt, dass die Ehe vollzogen wurde und das Kind frühestens sechs Mondmonate nach dem Vollzug der Ehe geboren wurde und seit Beginn der Schwangerschaft nicht mehr als neun Mondmonate vergangen sind.
(2) Das nach der Auflösung der Ehe geborene Kind gilt als vom [früheren] Ehemann abstammend, sofern es innerhalb von neun Mondmonaten nach dem letzten Vollzug der Ehe nach der Auflösung der Ehe geboren wurde und die Frau nicht erneut geheiratet hat, selbst wenn sie außerehelich geschlechtlich verkehrt hat.
(3) Hat die Ehefrau erneut geheiratet, gilt das nach der Auflösung der [ersten] Ehe geborene Kind als vom zweiten Ehemann abstammend, es sei denn, es sind seit der Auflösung der ersten Ehe mehr als neun Monate oder seit der zweiten Eheschließung weniger als sechs Monate vergangen.
(4) Kann das Kind keinem der beiden Ehemänner zugerechnet werden, gilt es als von keinem von ihnen abstammend. Kann das Kind einem der Ehemänner nicht zugerechnet werden, gilt es als vom anderen abstammend. Kann das Kind beiden Ehemännern zugerechnet werden, gilt es rechtmäßig als vom zweiten Ehemann abstammend, da für ihn die [aktuelle] gesetzliche Vaterschaftsvermutung gilt. In der gleichen Weise gilt das Kind statt vom zweiten Ehemann als von der Person abstammend, die in der irrtümlichen Annahme des Bestehens einer Ehe mit der Mutter verkehrt hat.


Künstliche Befruchtung

Art. 174
(1) Die Vermischung des Samens eines fremden Mannes mit der Eizelle einer fremden Frau im Laboratorium [In-vitro-Insemination] ist zulässig, aber die Übertragung einer befruchteten Eizelle in die Gebärmutter einer Frau ist verboten. Wird eine befruchtete Eizelle in die Gebärmutter übertragen, wird das daraus hervorgegangene Kind den Eigentümern der Keimzellen zugeordnet und die Bestimmungen über die Abstammung, die Verwandtschaft und das Erbrecht finden entsprechende Anwendung.
(2) Die intrauterine Insemination einer fremden Frau mit dem Samen eines fremden Mannes durch medizinische Verfahren oder durch Handlungen, die den Tatbestand des außerehelichen Geschlechtsverkehrs [noch] nicht erfüllen, ist verboten. Erfolgt die Insemination, wird das daraus hervorgegangene Kind den Eigentümern der Keimzellen zugeordnet und die Bestimmungen über die Abstammung, die Verwandtschaft und das Erbrecht finden entsprechende Anwendung.
(3) Die Vermischung der in der Ehezeit entnommenen Eizelle der Ehefrau mit dem Samen des Ehemannes ist nach dem Tod des Ehemannes oder nach der Auflösung der Ehe zulässig. Allerdings ist die Übertragung in die Gebärmutter der Ehefrau verboten. Wird die Eizelle übertragen, wird das daraus hervorgegangene Kind den Eigentümern der Keimzellen zugeordnet und die Bestimmungen über die Abstammung, die Verwandtschaft und das Erbrecht in Bezug auf die Mutter finden entsprechende Anwendung.


Ein Kind, das aus einem außerehelichen Geschlechtsverkehr, einem Geschlechtsverkehr in der irrtümlichen Annahme des Bestehens einer Ehe oder einer fehlerhaften Ehe hervorgeht

Art. 175
(1) Das aus einem Geschlechtsverkehr in der irrtümlichen Annahme des Bestehens einer Ehe zwischen zwei Personen, die nicht miteinander in einem die Ehe ausschließenden Grad verwandt sind, hervorgegangene Kind gilt als von der Frau und dem Mann abstammend, vorausgesetzt, das Kind wird sechs Mondmonate nach der ersten Beiwohnung oder neun Mondmonate nach der letzten Beiwohnung geboren. In Bezug auf den Partner, der Kenntnis vom Verbot des Geschlechtsverkehrs hatte, gilt diese Beziehung als unrechtmäßiger außerehelicher Geschlechtsverkehr.
(2) Das aus einer fehlerhaften Ehe hervorgegangene Kind gilt als von der Frau und dem Mann abstammend und es entstehen gegenseitige Erbrechte, vorausgesetzt, dass keine der Parteien Kenntnis von der Fehlerhaftigkeit der Ehe hatte. In Bezug auf den Partner, der Kenntnis von der Fehlerhaftigkeit der Ehe hatte, gilt diese Beziehung als unrechtmäßiger außerehelicher Geschlechtsverkehr.
(3) Das durch unrechtmäßigen außerehelichen Geschlechtsverkehr hervorgegangene Kind beerbt seinen leiblichen Vater nicht. Ebenso wenig beerben der Vater und seine Verwandten das Kind. Indes finden die sonstigen Bestimmungen der Abstammung (wie die Eheverbote) Anwendung.
(4) Das in Folge der irrtümlichen Annahme des Bestehens einer Ehe hervorgegangene Kind einer verheirateten oder sich in der Wartezeit befindlichen Frau gilt gemäß den Bestimmungen dieses Gesetzes als vom Ehemann oder als von der Person abstammend, die der Mutter beigewohnt hat. In Ermangelung eines gesicherten oder eines rechtmäßigen Nachweises über die Abstammung, wird diese durch Los bestimmt. Kann keinem der Männer die Abstammung zugeordnet werden, gilt die Abstammung des Kindes von ihnen als ausgeschlossen.


Der Nachweis der Abstammung

Art. 176
(1) Die Abstammung wird wie folgt nachgewiesen:

  • 1 – durch Anerkenntnis
  • 2 – durch Vaterschaftsvermutung
  • 3 – durch religiöse Beweise
  • 4 – durch notorisches Wissen
  • 5 – durch klare Beweise.

(2) Das ausdrückliche oder konkludente Anerkenntnis, das mit Absicht und Einverständnis erfolgt, weist die Abstammung nach, es sei denn, das Anerkenntnis erweist sich als unwahr. Das Bestreiten der Abstammung nach einem Anerkenntnis ist unzulässig.
(3) Die Voraussetzungen der Gültigkeit und die Rechtsfolgen des Anerkenntnisses der Abstammung sind wie folgt:

  • 1 – Die Begründung der Abstammung muss nach den Bestimmungen dieses Gesetzes möglich sein.
  • 2 – Die Person, deren Abstammung anerkannt wird, muss dieses bestätigen, es sei denn, sie ist minderjährig, psychisch krank oder verstorben.
  • 3 – Es darf kein Rechtsstreit anhängig sein.

(4) Die Abstammung, die durch Anerkenntnis nachgewiesen wird, entfaltet rechtliche Wirkungen nur zwischen dem Anerkennenden und dem Anerkannten, aber nicht im Verhältnis zu anderen Verwandten oder Dritten.
(5) Das Anerkenntnis einer Person über die Abstammung zu einer minderjährigen oder einer psychisch kranken Person ist unzulässig, wenn es ohne klare Beweise zum eigenen Vorteil erfolgt.
(6) Das Anerkenntnis einer Person über die Verwandtschaft zu jemand anderem als zu einem Kind, entfaltet mit der Bestätigung durch den Anerkannten oder durch Vorlage von Beweisen oder durch Zeugenaussage die rechtlichen Wirkungen der Verwandtschaft (wie Enkelkinder oder Neffen).
(7) Liegt kein klarer Beweis gegen die Vaterschaftsvermutung vor, gilt das Kind als vom Ehemann abstammend.
(8) Unter farâsh versteht man das Teilen des Ehebettes zwischen Ehemann und Ehefrau; damit ist der gegenwärtige Inhaber des Rechts, das Ehebett zu teilen, gemeint oder der Zustand einer rechtmäßigen Beiwohnung gemeint, wobei sowohl die Ehe als auch die irrtümliche Annahme des Bestehens einer Ehe umfasst sind.


Das Bestreiten der Abstammung

Art. 177
(1) Die Abstammung eines Kindes besteht nicht, wenn nachgewiesen ist, dass das eheliche Bett nicht geteilt und die Ehe nicht vollzogen wurde oder ein Verwünschungseid geleistet wurde. Liegen die Voraussetzungen der Abstammung vor, kann der Ehemann die Abstammung wegen eines Ehebruchs der Ehefrau nicht abstreiten, es sei denn, er ist von dem Nichtbestehen der Abstammung überzeugt.
(2) Jede Person, die ein [berechtigtes] Interesse hat, kann durch den Nachweis des Nicht-Teilens des ehelichen Bettes die Abstammung des Kindes bestreiten, aber das Bestreiten der Abstammung bei Bestehen einer Vaterschaftsvermutung und der Verwünschungseid obliegen ausschließlich den Ehegatten.
(3) Mit dem Verwünschungseid entfallen die gegenseitigen Erbrechte zwischen dem Kind und dem Vater und dessen Verwandten, die Wirkungen der Abstammung des Kindes zur Mutter und ihren Verwandten bleiben davon unberührt.


(4)–(9) […] (kein Abdruck)


Personensorge

Art. 178
(1) Die Personensorge umfasst die Beaufsichtigung, die Bildung, die islamische Erziehung, die Pflege und die medizinische Versorgung der Kinder.
(2) Die Personensorge ist das Recht und die Pflicht der Eltern und jede Art von Vereinbarung, die dem zuwiderläuft oder den Untergang der Personensorge bezweckt, ist nichtig.
(3) Die Mutter hat gegenüber dem Vater bei der Personensorge der Töchter bis zum neunten Lebensjahr und der Jungen bis zum siebten Lebensjahr Vorrang. Nach Ablauf des genannten Zeitraums geht die Personensorge für Jungen und Mädchen auf den Vater über, es sei denn, das Gericht befindet das Gegenteil als im Interesse des Kindes.
(4) Die Mutter kann die Kosten für die Ausübung der Personensorge vom Kindsvater fordern, es sei denn, das Kind verfügt über eigenes Vermögen.
(5) Stirbt der Vater oder erfüllt er nicht die Voraussetzungen zur Ausübung der Personensorge, ist die Mutter [wörtl.: mehr] personensorgeberechtigt; stirbt die Mutter oder erfüllt sie nicht die Voraussetzungen zur Ausübung der Personensorge, ist der Vater [wörtl.: mehr] personensorgeberechtigt.
(6) Die Züchtigung des Kindes durch die Eltern und die gesetzlichen Vormünder ist erlaubt. Aber jedwede körperliche Misshandlung zum Zwecke der Erniedrigung oder eine solche, die zum Schadensersatz (diye) berechtigt, ist verboten.
(7) Die Personensorge obliegt bei fehlender Befähigung oder bei Nichtvorhandensein der Eltern dem Großvater väterlicherseits. Bei Nichtvorhandensein oder fehlender Fähigkeit des Großvaters wird die Personensorge dem von ihnen ernannten Vormund übertragen. Bei Streitigkeiten über die Fähigkeit entscheidet das Gericht.
(8) Ist der gesetzliche oder der ernannte Vormund abwesend oder lehnen sie die Übernahme der Personensorge ab oder fehlt ihnen die Fähigkeit zur Personensorge, bestellt das Gericht einen Betreuer.
(9) Die Person, der die Personensorge übertragen wurde, kann den Umgang des Kindes mit den Eltern oder seinen Verwandten nicht unterbinden oder das Kind ohne Erlaubnis des Vaters oder der Eltern ins Ausland verbringen oder auf eine längere Reise mitnehmen. Die Häufigkeit des wöchentlichen Umgangs und die Dauer der Reise werden nach Gewohnheit bestimmt. Bei Streitigkeiten entscheidet das Gericht.
(10) Die Mutter ist verpflichtet, das Kind zu stillen, es sei denn, ihr entsteht dadurch ein Schaden. Die Mutter kann vom Kindsvater oder, im Falle seiner Leistungsunfähigkeit oder seines Nichtvorhandenseins, vom Großvater väterlicherseits eine Vergütung für das Stillen fordern.
(11) Hat das Kind keinen gesetzlichen Vormund oder weigert sich der gesetzliche Vormund, die Vergütung für das Stillen zu leisten, oder besteht keine Möglichkeit, ihn dazu zu verpflichten, ist die Mutter verpflichtet, das Kind unentgeltlich zu stillen.


Hindernisse zur Ausübung der Personensorge

Art. 179
(1) Die Hindernisse zur Ausübung der Personensorge sind:

  • 1 – psychische Erkrankung der sorgeberechtigten Person;
  • 2 – Unglaube oder Abfall vom Islam durch die sorgeberechtigte Person, sofern das Kind Muslim ist;
  • 3 – Eheschließung der personensorgeberechtigten Mutter mit einem anderen Mann als mit dem Vater des Kindes, außer das Kindeswohl ist berücksichtigt oder der Vater ist verstorben;
  • 4 – Sittenverfall und Suchtmittelabhängigkeit der sorgeberechtigten Person, derart, dass eine angemessene Personensorge nicht erfolgen kann;
  • 5 – Erkrankung an einer ansteckenden Krankheit der sorgeberechtigten Person, die die körperliche Unversehrtheit des Kindes gefährdet, oder die Lähmung der sorgeberechtigten Person, sodass sie zur Ausübung der Personensorge nicht fähig ist.

(2) Werden die in Abs. 1 dieses Artikels genannten Hindernisse der tatsächlichen Personensorge beseitigt, wird das Recht zur Personensorge wiederhergestellt.
(3) Übernehmen Verwandte wegen der Unmöglichkeit der Anrufung des Gerichts oder anderer Umstände entgeltlich die Personensorge eines Kindes mit Erlaubnis eines islamischen Rechtsgelehrten und verfügt das Kind über kein eigenes Vermögen, können die Verwandten die Kosten vom Fiskus zurückverlangen, und ist dies nicht möglich, können sie das Kind nach dessen Volljährigkeit in Anspruch nehmen.
(4) Die Personensorge für ein psychisch krankes Kind, das die Geschlechtsreife erreicht hat, richtet sich nach den Bestimmungen zur Vormundschaft und Personensorge in diesem Gesetz. Verursacht ein nicht unterscheidungsfähiger Minderjähriger oder eine unter Personensorge stehende psychisch kranke Person einen Schaden, haftet die Personensorge ausübende Person, entsprechend den Bestimmungen des Deliktsrechts für den Schaden.


Eintragung von Angelegenheiten bezüglich der Ehe

Art. 180
Angelegenheiten bezüglich der Ehe, die Verstoßungsscheidung, die Annullierung der Ehe, der Widerruf der Scheidung und die Geburten sind in den amtlichen Registern einzutragen.


 



1 Gesetz über das Personalstatut der schiitischen Gemeinschaft [qânûn-e ahvâl-e shakhsiye-ye ahl-e tashayyo´], Gesetzblatt Nr. 988 v. 27.7.2009.

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