Kommentar zum Eherecht aller Afghanen (außer Schiiten)
Das Familienrecht in Afghanistan ist im Gegensatz zur Mehrheit der islamischen Länder nicht interreligiös gespalten. Nur in Bezug auf schiitische Afghanen gibt es Sonderregelungen durch das Gesetz über das Personalstatut schiitischer Afghanen von 2009. Somit unterliegen alle sunnitischen Afghanen und Afghanen anderer Religionszugehörigkeiten den Regelungen des afghanischen Zivilgesetzbuches [qânûn-e madanî], Gesetzblatt Nr. 353 v. 5.1.1977, idF der Änderungsgesetze (im Folgenden: ZGB). Das afghanische Eherecht ist in Art. 60-134 afghanisches ZGB geregelt.
Materielle Voraussetzungen der Eheschließung
Ehemündigkeit
Die Ehemündigkeit tritt beim Mann mit der Vollendung des 18. und bei der Frau mit der Vollendung des 16. Lebensjahres ein (Art. 70 ZGB). Wollen Personen heiraten, die das gesetzliche Ehemündigkeitsalter nicht erreicht haben, muss die Eheschließung gerichtlich genehmigt werden. Zudem kann der Vormund, i. d. R. der Vater der Eheunmündigen, für sie die Ehe schließen. Art. 71 Abs. 2 ZGB bestimmt für Frauen eine Altersuntergrenze. Danach ist die Eheschließung einer Frau, die das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, unter keinen Umständen zulässig. Durch die Einführung einer Untergrenze des Eheschließungsalters soll Frühehen entgegengewirkt werden. Die Befugnis des Vormunds, die Ehe des Mündels ohne gerichtliches Genehmigungsverfahren zu schließen, bleibt jedoch weiterhin bestehen. Die Befugnis des Vormunds steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Eheschließung dem Wohle des Kindes dient.
Wird eine Ehe vor Erreichen des gesetzlichen Ehemündigkeitsalters geschlossen, gilt sie als fehlerhaft und kann vom Gericht aufgehoben werden. Trotz der bestehenden Regelungen zum Eheschließungsalter stellen Frühehen mit ihren negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft ein ernstzunehmendes Problem für Afghanistan dar. Die seit 2001 publizierten Berichte und durchgeführten Feldforschungen durch unabhängige Organisationen bestätigen das große Ausmaß der Frühehen im Land. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ausschlaggebend ist unter anderem die weitverbreitete Unkenntnis der geltenden Rechtslage, die Internalisierung von Traditionen sowie die tiefe Verwurzelung gewohnheitsrechtlicher Praktiken in der afghanischen Bevölkerung. Hinzu kommen die sehr schlechten ökonomischen Voraussetzungen in Afghanistan und die fragile politische Sicherheitslage.
Eheschließung mit Andersgläubigen
Gemäß Art. 92 Abs.1 S. 1 ZGB ist die Eheschließung zwischen einer muslimischen Frau und einem nichtmuslimischen Mann nichtig. Schließt somit eine muslimische Frau mit einem nichtmuslimischen Mann die Ehe, entfaltet diese Ehe keinerlei Rechtswirkungen. Andererseits kann ein muslimischer Mann entsprechend Art. 92 Abs. 1 S. 2 ZGB eine Ehe mit einer Frau eingehen, die einer sogenannten Buchreligion, also dem Christentum oder dem Judentum, angehört. Eine Eheschließung zwischen einem muslimischen Mann und einer Frau, die keiner Buchreligion angehört, stellt ebenfalls eine Nichtehe dar und entfaltet daher keinerlei Rechtswirkungen.
Gehört die Frau einer Buchreligion an, dürfen auch die Zeugen dieser Religion angehören. Art. 92 Abs. 2 ZGB bestimmt, dass die Eheschließung einer Frau, die einer Buchreligion angehört, durch deren Vormund (valî), in Anwesenheit zweier Zeugen, die ebenfalls dieser Buchreligion angehören, zustande kommen kann. Die Kinder, die aus einer solchen Ehe hervorgehen, werden gemäß Art. 92 Abs. 2 S. 2 ZGB als der Religion ihres Vaters zugehörig betrachtet.
Eheverbote
Damit eine Ehe fehlerfrei geschlossen wird, dürfen zum Zeitpunkt der Eheschließung keine Eheverbote vorliegen. Es gibt vorübergehende und dauerhafte Eheverbote. Bei Vorliegen eines dauerhaften Eheverbotes ist eine Eheschließung unter keinen Umständen erlaubt. Liegt ein vorübergehendes Eheverbot vor, ist die Eheschließung erst nach Wegfall des Eheverbotes gestattet.
Dauerhaften Eheverbote sind in Art. 81-84 ZGB geregelt. Sie können in vier Kategorien unterteilt werden: 1. Eheverbot der Blutsverwandtschaft, 2. Eheverbot der Schwägerschaft, 3. Eheverbot wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs und schließlich 4. Eheverbot der Milchverwandtschaft.
Die Eheverbote, die durch Blutsverwandtschaft entstehen, sind in Art. 81 ZGB festgelegt. Danach ist die Ehe einer Person mit ihren Aszendenten sowie ihren Deszendenten oder mit Deszendenten des Vaters oder der Mutter und den großelterlichen Deszendenten ersten Grades dauerhaft verboten.
Die Eheverbote der Schwägerschaft werden in Art. 82 ZGB bestimmt. Demzufolge ist die Ehe eines Mannes mit der Ehefrau seiner Aszendenten und mit der Ehefrau seiner Deszendenten dauerhaft verboten. Des Weiteren ist die Ehe eines Mannes mit den Aszendenten seiner Ehefrau ausnahmslos und mit Deszendenten seiner Ehefrau im Falle des Vollzugs der Ehe dauerhaft verboten. Art. 94 ZGB regelt weiterhin, dass das Eheverbot durch Schwägerschaft nicht greift, wenn eine fehlerhafte Ehe vor Vollzug aller ehelichen Handlungen gerichtlich geschieden wird.
Das Eheverbot, das sich durch den außerehelichen Geschlechtsverkehr begründet, wird in Art. 83 ZGB festgelegt. Art. 83 ZGB verbietet die Ehe zwischen einer außerehelich verkehrenden Person mit einem Aszendenten oder Deszendenten der Person, mit der sie
außerehelich verkehrt hat. Eheschließungen zwischen den Aszendenten und den Deszendenten der genannten Personen sind indes zulässig.
Das Eheverbot der Milchverwandtschaft aus Art. 84 ZGB steht dem Eheverbot der (Bluts-)Verwandtschaft aus Art. 81 ZGB gleich. Eine „Milchverwandtschaft“ entsteht durch das Stillen eines Säuglings durch eine andere Frau als seine leibliche Mutter und zieht die dieselben Eheverbote nach sich wie die Blutsverwandtschaft. Eine Eheschließung ist dagegen ausnahmsweise erlaubt mit der Schwester des Milchsohnes, mit der Mutter der Milchschwester oder des Milchbruders, mit der Großmutter des Milchsohnes oder der Milchtochter und schließlich mit der Schwester des Milchbruders. In allen anderen Fällen besteht ein dauerhaftes Eheverbot.
Vorübergehende Eheverbote liegen nach Art. 85 ZGB in den folgenden Fällen vor:
Will der Mann eine zweite Ehe eingehen, besteht gemäß Art. 85 Nr. 1 ZGB ein vorübergehendes Eheverbot, wenn zwischen den beiden Frauen ein Eheverbot bestünde, unterstellt man, dass eine der Frauen ein Mann wäre. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Mann eine weitere Ehe mit der Schwester seiner Ehefrau eingehen will. Zwischen den beiden Schwestern bestünde ein dauerhaftes Eheverbot, wenn angenommen werden würde, dass eine Schwester ein Mann wäre. Um mit der Schwester der Ehefrau die Ehe eingehen zu können, müsste der Mann zunächst seine erste Ehe auflösen.
Ein temporäres Eheverbot gilt des Weiteren auch für die Eheschließung mit einer verheirateten Frau oder einer Frau, die sich in der Wartezeit nach Auflösung ihrer vorherigen Ehe befindet (Art. 85 Nr. 3 ZGB).
Auch der Ausspruch eines sogenannten Verwünschungseids begründet ein Eheverbot. Hat der Ehemann seine Ehefrau des Ehebruchs bezichtigt und seine Behauptung durch einen Verwünschungseid bekräftigt und wird die Ehe daraufhin geschieden, muss der Ehemann gemäß Art. 85 Nr. 4 ZGB die Beschuldigung zurücknehmen, wenn er erneut mit derselben Frau die Ehe eingehen will.
Schließlich liegt gemäß Art. 85 Nr. 5 ZGB ein vorübergehendes Eheverbot vor, wenn ein muslimischer Mann eine Frau ehelichen will, die keiner Buchreligion angehört. Das Eheverbot kann jedoch durch Konvertierung der Frau zum Islam oder zu einer der anderen Buchreligionen aufgelöst werden. Die Ehe zwischen einem muslimischen Mann und einer Angehörigen einer (anderen) Buchreligion ist hingegen zulässig.
Umgekehrt gilt das nicht. Bei der Eheschließung einer muslimischen Frau ist die Zugehörigkeit des Mannes zu einer (anderen) Buchreligion nicht ausreichend. Vielmehr muss der Mann ebenfalls der islamischen Religionsgemeinschaft angehören. Dies bestimmt Art. 92 Abs. 1 S. 1 ZGB ausdrücklich, indem er die Eheschließung zwischen einer Muslimin und einem Nichtmuslim für nichtig erklärt. Eine Muslimin kann somit nur einen Muslim heiraten, so dass bei Zugehörigkeit des Mannes zu jeder anderen Religion sein Übertritt zum Islam erforderlich ist.